Anna und Paul - Eine Liebesgeschichte
Ich stand am Fenster und
schaute hinaus. Unter mir
war die Straße. Ich
stand jetzt schon eine Weile
so da. Schon sieben Tage war
ich jetzt zu Hause. Ich wartete
Worauf wartete ich eigentlich?
Wo war eigentlich die ganze
Zeit geblieben?
In der Eintönigkeit
und in der Langeweile, so
kam es mir vor!
Auf diese Weise konnte man
es sich vielleicht erklären.
Ich war ja in einer Klinik
gewesen. Es ging nämlich
nicht mehr anders!
Das Leben hatte einfach nicht
mehr funktioniert. Ich war
ein anderer Mensch geworden.
Ich konnte nicht mehr reden.
Entweder sagte ich zu viel
oder gar nichts mehr. Es stimmte
nichts. Dann wiederholte ich
mich immer wieder. Aber es
bedeutete nichts. Es war sinnlos.
Es war wie die Musik auf einer
Toilette oder in der Sauna.
Nach einer bestimmten Zeit
fing alles wieder von vorne
an. Aber es hatte keine Bedeutung
und führte auch zu nichts.
Eine Klangwelle war es. Sie
transportierte aber nichts
mehr. Es kam jedenfalls nichts
mehr am anderen Ende an.
Es hätte auch alles
misslingen können. Aber
ich hatte trotzdem jetzt keine
Dankbarkeit. Es war ja weiterhin
alles beliebig. Wenn ich nicht
mehr da gewesen wäre,
dann hätte jemand anderes
eben die Lücke geschlossen.
Alles, was ich besaß,
hätte halt den Besitzer
gewechselt. Entweder es war
dann für ihn brauchbar
gewesen oder er hätte
eben dann alles verschenkt
oder in einen Container gegeben
und alles wäre dann entsorgt
worden. So wäre ich dann
vielleicht auch ganz verschwunden.
Auch entsorgt worden! Wohin
auch immer. Keiner hätte
sich an meinen Namen mehr
erinnert.
Die Zeit wäre natürlich
für die anderen weitergegangen.
Niemand hätte sich deswegen
überhaupt einen Gedanken
gemacht. Es war schon immer
so. Der Eine ging, der Andere
kam. Darüber regte sich
wirklich niemand auf. Das
musste ich so akzeptieren.
Und das tat ich ja auch.
Ich fühlte mich ziemlich
einsam. Aber ich beachtete
es nicht. Es war für
mich jetzt ganz normal. Der
Tag verging und der nächste
kam. Heute war der siebte
Tag nach meiner Entlassung
aus der Klinik. Ich blickte
zurück. Und wieder auf
die Straße. Es regnete,
wie so oft in den letzten
Tagen. Das Wasser lief an
den Bordsteinen entlang und
die zu kleinen Reihen aufgeschobenen
Blätter sammelten sich
an den Abflüssen. Der
Regen war stark. Er reinigte
aber alles.
Es war noch früh am
Morgen, und ich sah viele
Menschen rasch die Straße
entlanggehen, um dann direkt
unter meinem Fenster nach
links zur S-Bahn-Haltestelle
abzubiegen. Ja, so war es
auch bei mir immer gewesen.
Immer in Eile war ich gewesen.
Keine Verschnaufpause. Keine
Zeit durfte ich verlieren!
Jetzt hatte ich viel zu viel
davon. Auf einmal.
In der Klinik hatten sie
mir die Diagnose Burnout gegeben.
Mein Tischnachbar grinste
mich damals, als wir beim
Mittagessen darüber sprachen,
an und sagte:
Jetzt hast du auch
diese Modediagnose, Glückwunsch!
Ich war ratlos damals und
wusste keine Antwort darauf.
Was sollte ich sagen? Man
hatte mir gesagt, das sei
eine sehr alte Krankheit.
Die hatte es schon immer gegeben,
lediglich die Bezeichnungen
waren aber jeweils anders
gewesen. Schon im Alten Testament
sei diese Krankheit beschrieben
worden, nämlich schon
bei Moses. Der hatte nämlich
auch schon Burnout gehabt.
Ich war damals erstaunt gewesen.
Moses hatte Burnout? Das hatte
ich nicht gewusst. Aber denkbar
war das schon! Der hatte ja
auch ziemlich viel Stress
gehabt.
Auch der große Schriftsteller
Thomas Mann hatte bei Thomas
Buddenbrook diese Krankheit
erkannt. Von Shakespeare kam
dann das Wort to burn
out, also ausbrennen.
Das war für mich neu,
das wusste ich bis zu diesem
Zeitpunkt auch noch nicht.
Warum war ich eigentlich ausgebrannt?
Was waren die Gründe?
Ja, Herr Kollege, das
werden wir schon wieder hinbekommen.
Schon andere haben diese Krankheit
vor Ihnen überwunden.
Ärzte gehören nun
mal zur Spitzengruppe der
Burnout-Patienten. Wahrscheinlich
bekämen über 20%
der Ärzte hierzulande
diese Diagnose, wenn sie sich
behandeln ließen. Man
müsste nur genauer hinschauen.
Der Job ist mörderisch.
Ich sage nichts mehr dazu.
Aber da wird sich in den nächsten
Jahren viel ändern müssen.
Das wird so nicht mehr weitergehen!
Er klärte mich weiter
auf:
Im ICD10, also der
Internationalen Klassifizierungen
von Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation
WHO ist Burnout keine Krankheitsdiagnose,
sondern wird als Restkategorie
Z73, Probleme verbunden mit
der Lebensführung
aufgeführt. Im Diagnostischen
Manual der Amerikanischen
Psychiatrischen Vereinigung
gibt es den Begriff Burnout
überhaupt nicht.
Das überraschte mich
allerdings.
Später erfuhr ich:
Aufgrund fehlender
Diagnosekriterien sind weder
genaue Aussagen über
die Häufigkeit noch über
die Kostenrelevanz von Burnout
möglich. Burnout wird
zudem als Ausweichdiagnose
für andere psychische
Störungen wie Depression,
Angst- oder Abhängigkeitserkrankungen
verwendet und verhindert so
eine adäquate, leitliniengerechte
Behandlung.
Auf solch dünnem Eis
bewegte ich mich also. Aber
was sollte ich tun? Wie ging
es mit mir überhaupt
weiter? Wer konnte mir denn
helfen?
Ich schaute meinen Therapeuten
an. Er sagte zunächst
nichts. Sicherlich konnte
er mir helfen. Ich war ja
nicht sein erster Patient!
...
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