Ich stand am Fenster
 Joachim Strienz · Anna und Paul - Eine Liebesgeschichte

 

 

 

 
 
 
 
 

 

 

«

 

 

Anna und Paul - Eine Liebesgeschichte

Ich stand am Fenster und schaute hinaus. Unter mir war die Straße. Ich stand jetzt schon eine Weile so da. Schon sieben Tage war ich jetzt zu Hause. Ich wartete…

Worauf wartete ich eigentlich?

Wo war eigentlich die ganze Zeit geblieben?

In der Eintönigkeit und in der Langeweile, so kam es mir vor!

Auf diese Weise konnte man es sich vielleicht erklären.

Ich war ja in einer Klinik gewesen. Es ging nämlich nicht mehr anders!

Das Leben hatte einfach nicht mehr funktioniert. Ich war ein anderer Mensch geworden. Ich konnte nicht mehr reden. Entweder sagte ich zu viel oder gar nichts mehr. Es stimmte nichts. Dann wiederholte ich mich immer wieder. Aber es bedeutete nichts. Es war sinnlos. Es war wie die Musik auf einer Toilette oder in der Sauna. Nach einer bestimmten Zeit fing alles wieder von vorne an. Aber es hatte keine Bedeutung und führte auch zu nichts. Eine Klangwelle war es. Sie transportierte aber nichts mehr. Es kam jedenfalls nichts mehr am anderen Ende an.

Es hätte auch alles misslingen können. Aber ich hatte trotzdem jetzt keine Dankbarkeit. Es war ja weiterhin alles beliebig. Wenn ich nicht mehr da gewesen wäre, dann hätte jemand anderes eben die Lücke geschlossen. Alles, was ich besaß, hätte halt den Besitzer gewechselt. Entweder es war dann für ihn brauchbar gewesen oder er hätte eben dann alles verschenkt oder in einen Container gegeben und alles wäre dann entsorgt worden. So wäre ich dann vielleicht auch ganz verschwunden. Auch entsorgt worden! Wohin auch immer. Keiner hätte sich an meinen Namen mehr erinnert.

Die Zeit wäre natürlich für die anderen weitergegangen. Niemand hätte sich deswegen überhaupt einen Gedanken gemacht. Es war schon immer so. Der Eine ging, der Andere kam. Darüber regte sich wirklich niemand auf. Das musste ich so akzeptieren. Und das tat ich ja auch.

Ich fühlte mich ziemlich einsam. Aber ich beachtete es nicht. Es war für mich jetzt ganz normal. Der Tag verging und der nächste kam. Heute war der siebte Tag nach meiner Entlassung aus der Klinik. Ich blickte zurück. Und wieder auf die Straße. Es regnete, wie so oft in den letzten Tagen. Das Wasser lief an den Bordsteinen entlang und die zu kleinen Reihen aufgeschobenen Blätter sammelten sich an den Abflüssen. Der Regen war stark. Er reinigte aber alles.

Es war noch früh am Morgen, und ich sah viele Menschen rasch die Straße entlanggehen, um dann direkt unter meinem Fenster nach links zur S-Bahn-Haltestelle abzubiegen. Ja, so war es auch bei mir immer gewesen. Immer in Eile war ich gewesen. Keine Verschnaufpause. Keine Zeit durfte ich verlieren! Jetzt hatte ich viel zu viel davon. Auf einmal.

In der Klinik hatten sie mir die Diagnose Burnout gegeben. Mein Tischnachbar grinste mich damals, als wir beim Mittagessen darüber sprachen, an und sagte:

„Jetzt hast du auch diese Modediagnose, Glückwunsch!“

Ich war ratlos damals und wusste keine Antwort darauf. Was sollte ich sagen? Man hatte mir gesagt, das sei eine sehr alte Krankheit. Die hatte es schon immer gegeben, lediglich die Bezeichnungen waren aber jeweils anders gewesen. Schon im Alten Testament sei diese Krankheit beschrieben worden, nämlich schon bei Moses. Der hatte nämlich auch schon Burnout gehabt. Ich war damals erstaunt gewesen. Moses hatte Burnout? Das hatte ich nicht gewusst. Aber denkbar war das schon! Der hatte ja auch ziemlich viel Stress gehabt.

Auch der große Schriftsteller Thomas Mann hatte bei Thomas Buddenbrook diese Krankheit erkannt. Von Shakespeare kam dann das Wort „to burn out“, also ausbrennen. Das war für mich neu, das wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Warum war ich eigentlich ausgebrannt? Was waren die Gründe?

„Ja, Herr Kollege, das werden wir schon wieder hinbekommen. Schon andere haben diese Krankheit vor Ihnen überwunden. Ärzte gehören nun mal zur Spitzengruppe der Burnout-Patienten. Wahrscheinlich bekämen über 20% der Ärzte hierzulande diese Diagnose, wenn sie sich behandeln ließen. Man müsste nur genauer hinschauen. Der Job ist mörderisch. Ich sage nichts mehr dazu. Aber da wird sich in den nächsten Jahren viel ändern müssen. Das wird so nicht mehr weitergehen!“

Er klärte mich weiter auf:

„Im ICD10, also der Internationalen Klassifizierungen von Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Burnout keine Krankheitsdiagnose, sondern wird als „Restkategorie Z73, Probleme verbunden mit der Lebensführung“ aufgeführt. Im „Diagnostischen Manual“ der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung gibt es den Begriff Burnout überhaupt nicht.“

Das überraschte mich allerdings.

Später erfuhr ich:

„Aufgrund fehlender Diagnosekriterien sind weder genaue Aussagen über die Häufigkeit noch über die Kostenrelevanz von Burnout möglich. Burnout wird zudem als Ausweichdiagnose für andere psychische Störungen wie Depression, Angst- oder Abhängigkeitserkrankungen verwendet und verhindert so eine adäquate, leitliniengerechte Behandlung.“

Auf solch dünnem Eis bewegte ich mich also. Aber was sollte ich tun? Wie ging es mit mir überhaupt weiter? Wer konnte mir denn helfen?

Ich schaute meinen Therapeuten an. Er sagte zunächst nichts. Sicherlich konnte er mir helfen. Ich war ja nicht sein erster Patient!

...

 

»