1. Zattomare erwartet
den Kaiser Caracalla
Zattomare stand auf einem
vorspringenden Felsen und
blickte ins Tal hinab. Zunächst
sah er nichts, was sich dort
verändert hätte.
Doch nach einer Weile bemerkte
er in der Ferne eine Staubwolke,
die sich laufend vergrößerte.
Wahrscheinlich waren es jetzt
die Leute, die er erwartete.
Er blickte sich um. In einiger
Entfernung von ihm standen
Cintugene und Luguvale. Sie
waren Krieger der Selvaner.
Sie hatten ihn bis hierher
begleitet. Die Selvaner lebten
schon lange in den Alpen.
Hier war ihre Heimat.
Beide blickten jetzt mit ernstem
Gesicht zu ihm herüber.
Sie wirkten angespannt. Jeder
hielt den großen Bogen
in der rechten Hand. Das Beil
steckte im Gürtel und
glänzte in der Sonne.
Luguvale drehte sich etwas
auf die Seite und nun konnte
man auch den Köcher mit
den Pfeilen auf seinem Rücken
erkennen. Beide steckten in
ihren Lederhosen und den Felljacken
aus kleineren zusammengenähten
Lederstücken. Sie trugen
heute nur die leichten Schuhe,
denn es war ja Sommer. Ihre
Mützen hatten sie in
den Nacken geschoben.
Irgendwie herrschte jetzt
doch eine gewisse Nervosität.
Hier oben zu warten war für
alle ungewöhnlich. Sie
standen in der Sonne, die
sich jetzt fast senkrecht
über ihnen befand. Zattomare
beugte sich wieder etwas vor
und blickte nochmals ins Tal
hinab. Jetzt sah er in der
Ferne Reiter auf Pferden mit
Rüstungen, die in der
Sonne blitzten.
Es waren nicht viele, vielleicht
etwa 100 Personen. Kein Heer
oder gar eine Legion, die
sich kilometerlang durch die
Landschaft schob. Nein, eine
Gruppe von Reitern und sie
näherte sich jetzt doch
relativ rasch.
Jetzt konnte er die Personen
auch besser unterscheiden.
Alle sahen sehr prächtig
aus. Viel Rot sah er. Und
natürlich das Gold der
Rüstungen. Etwa in der
Mitte der Gruppe und abgeschirmt
ritt ein Mann mit einer Schärpe,
die wegen ihrer blauen Farbe
aus dem Rot besonders herausstach.
Sein Pferd war auch besonders
prächtig geschmückt.
Das musste derjenige sein,
auf den er heute so lange
gewartet hatte.
Vor ein paar Tagen war ein
Trupp Reiter im Dorf erschienen
mit dem zukünftigen Statthalter
der Provinz Raetiens Gaius
Suetrius Sabinus. Sie waren
freundlich gesonnen gewesen,
nicht so wie damals vor etwa
200 Jahren, als alle Bewohner
von den Römern zunächst
gefangen genommen worden waren
und erst später dann
wieder frei kamen.
Nein, diesmal wollten sie
mit Sagomare sprechen. Später
unterhielten sich dann auch
Sabinus und Sagomare. Worüber
sie sprachen, war zunächst
nicht erkennbar. Dann holte
jemand Zattomare hinzu. Es
musste also etwas ganz Besonderes
sein, wenn der Schamane selbst
dabei sein sollte.
Als sich Zattomare damals
gesetzt hatte, begann Sabinus
auch zu sprechen. Es ging
um den Kaiser selbst, das
war das Besondere gewesen.
Er war schwer erkrankt und
brauchte jetzt dringend Hilfe.
Das durfte natürlich
niemand erfahren. Das sollte
geheim bleiben. Der Kaiser
war auf der Durchreise und
sollte in etwa 5 Tagen über
den Pass kommen.
Er wollte dann weiter bis
an die Reichsgrenze reiten.
Dort musste gekämpft
werden. Er wollte die Feinde
zurückdrängen, die
immer näher an den Limes
herangekommen waren. Die Geduld
des Kaisers war nun zu Ende.
Aber, dem Kaiser ging es eben
nicht gut. Dass er immer schlechte
Laune hatte, daran hatte man
sich bereits gewöhnt,
aber, dass er manchmal Entscheidungen
traf, die niemand verstand,
das war eine Belastung. Er
konnte auch grausam reagieren.
Dann war man seines Lebens
nicht mehr sicher. Davor hatten
alle in seiner Umgebung Angst.
Seit neuestem war er allerdings
auch gelegentlich ängstlich
und fürchtete sich vor
der Zukunft. Diese Gefühlsschwankungen
waren ebenfalls schwer zu
ertragen. Außerdem berichtete
er über Stimmen, die
ihm Befehle gaben, und das
konnte nun wirklich niemand
mehr verstehen.
Der designierte Statthalter
selbst hatte Kontakt mit der
Mutter des Kaisers Julia Domna
aufgenommen und sich mit ihr
beraten. Das war gefährlich,
denn, wenn der Kaiser das
erfahren hätte, dann
konnte er gnadenlos sein.
Dann rastete er aus. Deshalb
musste auch das geheim bleiben.
Sie war aber bereits informiert.
Jemand hatte ihr schon über
den Zustand ihres Sohnes berichtet.
Sie hatte dann vorgeschlagen,
einen Fachmann einzuschalten,
aber es gab niemanden, der
bereit gewesen wäre,
dem Kaiser zu helfen. Keiner
wollte sich auf diese gefährliche
Aufgabe einlassen. Und, das
war ja auch berechtigt. Mit
dem Kaiser war nicht zu spaßen.
Ein falsches Wort, und er
begann zu toben.
Die Zeit verging, und es wurde
tatsächlich niemand gefunden,
der bereit gewesen wäre,
ihm zu helfen. Allerdings
besserte sich auch das Befinden
des Kaisers nicht wesentlich.
Es musste also dringend etwas
geschehen. Nur wie? Und was?
Einflussreiche Leute am Hofe
schlugen eine Kur vor. Apollo
Grannus war in aller Munde.
Dieser Gott könnte ihm
helfen. Im nördlichen
Reichsgebiet gab es Heiligtümer
dieses Gottes. Das Bade- und
Trinkwasser in seinen Tempeln
war berühmt. Erst kürzlich
waren Leute in Phoebiana gewesen
und waren begeistert zurückgekommen.
Dort musste also der Kaiser
unbedingt hin.
Seine Mutter war allerdings
ziemlich skeptisch gewesen.
Der Geist ihres Sohnes war
verfinstert. Sie glaubte nicht,
dass Badekuren hier eine Besserung
erzielen konnten. Da musste
mehr passieren, hatte sie
gesagt. Dazu braucht es einen
klugen und mutigen Kopf.
Aber, wo sollte der sein.
Irgendwann kam Zattomare ins
Spiel. Das Volk der Selvaner
hatte lange Widerstand geleistet,
als die römische Armee
das Gebiet in Besitz nahm.
Sie hatten das unwegsame Gelände
benutzt, um immer wieder zu
entkommen. Manchmal waren
sie wie vom Erdboden verschluckt.
Dann waren sie plötzlich
wieder da. Geheime unterirdische
Gänge wurden als Grund
angenommen.
Die geistigen Führer
waren schon damals Zattomares
Vorfahren gewesen. Nach dem
Feldzug war man gnädig
mit ihnen umgegangen. Die
Selvaner durften bleiben und
ihr Kupfererz weiter verarbeiten.
Die römische Armee selbst
war aber an diesen Produkten
nicht interessiert. Die Werkstätten
wären auch gar nicht
in der Lage gewesen, in so
großen Mengen zu produzieren,
wie sie das Militär gebrauchte
hätte.
Zattomare, wir brauchen
dich! Der Kaiser ist jetzt
in einer schwierigen Lage
und damit wir alle auch,
so hatte Sabinus dann gesprochen.
Zattomare hatte sich zurückgelehnt
und nachgedacht. Er hatte
ja eigentlich gar keine andere
Wahl. Wenn er nicht zustimmte,
dann würde das sicherlich
großen Ärger hervorrufen.
Konnte er denn überhaupt
dem Kaiser helfen? Gab es
dafür überhaupt
Möglichkeiten? Wie sollte
er das überhaupt anstellen?
Zattomare nickte. Ich
werde dem Kaiser helfen!
sagte er. Er hatte sich entschieden.
Es war eine Entscheidung aus
dem Bauch heraus. In diesem
Fall hatte es gar keinen Sinn,
den Verstand einzuschalten.
Er würde seine Hilfsgeister
bitten, ihm zu helfen. Und
dann würde man sehen,
was passierte. Es waren aber
sicher mehrere Behandlungen
notwendig. Wie dies geschehen
sollte, war ihm zunächst
nicht klar.
Zattomare sprach weiter:
Es gibt ja die Welt
der sichtbaren Erscheinungen
und die Welt der unsichtbaren
Kräfte. Es sind die zwei
Ebenen der Wirklichkeit. Die
sichtbare Welt ist geordnet
und entfaltet. Sie liegt direkt
vor uns. Es ist die Welt,
die wir täglich erleben.
Die andere Welt ist noch eingefaltet,
also noch nicht direkt sichtbar.
Sie ist noch im Entstehen.
Zu dieser Welt haben wir noch
keinen direkten Zugang. Sie
erschließt sich uns
nur indirekt. Sie befindet
sich außerhalb von Ort
und Zeit. Beide Ebenen durchdringen
sich aber. Die Dinge der entfalteten
Welt wurzeln als Urbilder
in der eingefalteten Welt,
bevor sie sich manifestiert
haben. Sie haben dort ihren
Ursprung.
Was wollte er eigentlich damit
sagen? Hierauf setzte er aber
seine ganze Hoffnung, wie
dem Kaiser zu helfen war.
Alles ist in der Schwebe
und nur Weniges wird dann
irgendwann auch zur Realität.
Wer entscheidet eigentlich,
was schließlich dann
dazu wird? Nicht einmal der
Kaiser verfügt über
diese Macht. Wir kennen diese
Prozesse noch nicht. Vielleicht
ist es auch nur der Zufall,
der alles regelt.
Er machte eine Pause, um seine
Gedanken wieder zu ordnen.
Wahrscheinlich hatte niemand
verstanden, was er damit eigentlich
meinte.
Er hatte vor diesem Gespräch
noch rasch seinen dunklen
Mantel mit den Kupferplättchen
und den silbernen Fäden
angezogen. Auf dem Kopf trug
er seine rote Kappe. Das verschaffte
ihm Autorität.
Sie saßen da und keiner
sprach mehr weiter. Alle blickten
ihn erwartungsvoll an.
Plötzlich hatte er den
Drang aufzustehen. Seine Größe
zu zeigen. Und seine Macht.
Der Schamane aus den Bergen.
Er nahm dabei seine beiden
Arme hoch.
Nichts in dieser Welt
ist fest, greifbar oder stabil.
Es ist wie bei der Musik.
Die Töne fließen,
aber sie sind doch miteinander
verbunden. Aus diesem Fließen
versucht unser Verstand einzelne
Teile zu bilden. Diese Elemente
lassen uns dann die Welt erkennen.
Die eingefaltete Ordnung bestimmt
die entfaltete Ordnung. Wir
neigen dazu, die entfaltete
Ordnung als die wirkliche
Welt zu empfinden, denn sie
verhilft uns zu Stabilität.
Die eingefaltete Welt ist
für unser Denken nicht
fassbar. Nur der Schamane
kann beide Welten miteinander
verbinden. Ich werde also
diese Aufgabe übernehmen
und mein Bestes geben.
Sabinus sprang nun ebenfalls
auf und reichte dem Schamanen
die Hand. Am liebsten hätte
er ihn umarmt, aber das getraute
er sich dann doch nicht. Stattdessen
umarmte er Sagomare, der sich
inzwischen ebenfalls erhoben
hatte.
Die Stimmung war nun gelöst,
Sabinus war erleichtert. Er
hatte seinen Auftrag erfüllt.
Er konnte dem Kaiser jetzt
eine Hilfe anbieten.
Sabinus unterrichtete dann
beide, wann mit dem Kaiser
zu rechnen sei und verabschiedete
sich. Rasch waren dann die
Reiter zwischen den Felsen
wieder verschwunden.
Plötzlich hatte sich
alles verändert. Dieses
kleine Volk tief in den Bergen
erwachte plötzlich. Der
Kaiser persönlich, der
Herrscher der bisher bekannten
Welt würde sie besuchen.
Und zwar friedlich. Das war
nicht selbstverständlich,
denn überall, wo er hinkam,
gab es Krieg und die Gegner
wurden gnadenlos niedergemacht.
Aber hier oben gab es eigentlich
nichts zu holen. Das Leben
war karg und hätten die
Selvaner nicht schon vor langer
Zeit das Schmelzen des Kupfers
erfunden, dann wäre alles
auch so geblieben. Aber die
Gewinnung des reinen Kupfers
und seine Verarbeitung waren
wirtschaftlich doch sehr erfolgreich.
Damit hatten sie es zu einem
bescheidenen Wohlstand gebracht.
Das wussten natürlich
auch die Römer. Aber
das Land gehörte ja eigentlich
jetzt schon lange den Römern.
Sie hatten es vor etwa 200
Jahren bereits in Besitz genommen,
als sich die Reichsgrenze
immer mehr nach Norden verschoben
hatte.
Sagomare schaute den Schamanen
Zattomare an und nickte mit
dem Kopf.
Du wirst das schon machen!
Du bist unser bester Mann!
Ich mache mir um Dich keine
Sorgen.
Sie umarmten sich gegenseitig
und Sagomare klopfte dem Schamanen
aufmunternd auf den Rücken.
...
|